Im Herbst des Jahres 2008 bat uns unser zweiter Sohn von dreien, damals 24 Jahre alt, zu einem persönlichen Gespräch. Mein Mann und ich konnten uns nicht so recht vorstellen, was er uns wohl mitteilen wollte. Natürlich machten wir uns Gedanken und hofften, dass es nichts Negatives sein würde.
Was dann kam, war doch im ersten Moment recht überraschend. Unser Sohn erklärte uns, dass er sich in einen jungen Mann verliebt habe und dachte, dass er homosexuell empfindet. In der ersten Reaktion umarmten wir ihn beide und sagten ihm, dass wir ihn lieb hatten. Wir waren irgendwie auch erleichtert, dass es nichts anderes war.
Nachdem sich diese Nachricht etwas gesetzt hatte, kamen jedoch bei mir auch die ersten Ängste hoch. Sie bezogen sich vor allem auf das weitere Leben unseres Sohnes. Wird er wegen seiner Veranlagung ausgegrenzt werden? Wie wird er sein partnerschaftliches Leben gestalten? Auch die Angst, dass er sich mit AIDS o.a. infizieren könnte, spielte eine Rolle. In mir wurde sofort der mütterliche Beschützerinstinkt aktiv, wiewohl ich natürlich sehr genau wusste, dass ich all diese Dinge nicht wirklich beeinflussen können würde. Gleichzeitig hatte und habe ich aber sehr viel Vertrauen in meinen Sohn, dass er sein Leben verantwortlich gestaltet.
Unsere Familie ist christlich sozialisiert. Wir gehören der evangelisch-lutherischen Kirche in Sachsen an. In den 90er Jahren waren wir für eine gewisse Zeit in gemäßigten charismatischen Gemeinden aktiv. In dieser Zeit erlebten wir auch die negativen Einstellungen gegenüber Menschen mit homosexueller Prägung. Ich kannte persönlich zwei Christen, die massiv versuchten, ihre Veranlagung zu verstecken. Damals begann ich mich mit der Bibel zu diesem Thema zu beschäftigen und bemerkte recht bald, dass mein Gottesbild mit der gängigen Auslegung in diesen Gemeinden nicht übereinstimmte und dass es noch andere Möglichkeiten gab, entsprechende Textstellen zu interpretieren. Das hatte zur Folge, dass sich meine persönliche Sicht stark veränderte. Vor diesem Hintergrund war das Outing meines Sohnes auch kein Problem mehr.
In der ersten Zeit sollte unsere weitere Familie noch nichts erfahren. Das wollte unser Sohn so. Also machten mein Mann und ich uns mit dem Thema erst einmal vertraut. Das brachte etwas mehr Klarheit in verschiedene Fragen. Durch weitere Gespräche mit unserem Sohn konnten Ängste abgebaut werden. Das Vertrauensverhältnis zu ihm hat sich seitdem noch vertieft. Das später folgende Outing unsererseits der Familie und Freunden gegenüber, gestaltete sich recht unterschiedlich. In der engeren Familie (Brüder, Schwägerin, Großeltern, Tanten, Onkel usw.) gab es, bis auf eine Ausnahme, keine größeren Probleme. Sie alle gehen, wie wir, davon aus, dass sich durch die sexuelle Orientierung eines Menschen nichts im Verhältnis zu ihm ändert. Leider gibt es jedoch in unserer Familie ein Mitglied, der Patenonkel und bis vor dem Outing eine starke Bezugsperson für unseren Sohn, mit einer ausgeprägten Homophobie, die bis heute anhält. Der Onkel hat jeglichen äußeren und inneren Kontakt zu ihm abgebrochen. Das macht sich vor allem bei unvermeidlichen Begegnungen in der Familie, z.B. bei Feiern, negativ bemerkbar und ist eine Quelle für Leid.
Die Reaktionen unserer Freunde waren geteilt. Sie reichten von völliger Akzeptanz bis hin zu Sprachlosigkeit, die sich zum Teil bis jetzt nicht geändert hat. Diese ist für mich als Mutter besonders schwer zu ertragen, weil in Gesprächen über die Kinder ein wichtiger Teil meines Lebens einfach nicht mehr vorkommt. Allerdings gibt es dafür leider nach meiner Erfahrung keine zufriedenstellende Lösung. Wir werden immer zu jedem unserer drei Söhne stehen, egal wen sie lieben. Unter anderem aus diesem Grund habe ich im Jahr 2009 Kontakt zu einer hier in Dresden ansässigen Elterngruppe aufgenommen. Mein Sohn kannte dort eine Mutter und hat das vermittelt. Einmal im Monat treff en sich Eltern homosexueller und transidenter Kinder zum Erfahrungsaustausch, aber auch, um Öffentlichkeits- sowie Aufklärungsarbeit zu leisten. Wir sind z.B. jedes Jahr mit einem Stand auf dem Christopher-Street-Day in Dresden vertreten. Die Treffen sind meinem Mann und mir sehr wichtig. Wir konnten unser Wissen über Homosexualität und Transidentität beträchtlich erweitern. Außerdem ist es immer eine Bereicherung, sich mit Menschen aus einem gleichen oder ähnlichen Erfahrungshorizont auszutauschen. Durch gemeinsame Unternehmungen, wie z.B. Gartenfeste, Weihnachtsfeiern oder Ausflüge, besteht unter den Mitgliedern eine sehr
freundschaftliche Atmosphäre, in die auch neu dazu kommende Eltern jederzeit gerne hineingenommen werden. Wir sind kein Verein, deshalb bestehen keine konkreten Verpflichtungen. Einige der Eltern, u.a. mein Mann und ich, sind Mitglieder im BEFAH (Bundesverband für Eltern, Freunde und Angehörige Homosexueller). Über die entsprechende Homepage sind alle Kontakte und Informationen, u.a. über unsere Elterngruppe, verfügbar.
Abschließend möchte ich sagen, dass das Outing unseres Sohnes und später auch unser eigenes viel verändert hat. Ich denke, wir sind als Familie noch mehr zusammengewachsen. Unser Horizont hat sich beachtlich erweitert, was die Buntheit und Vielfalt in Gottes Schöpfung betrifft. Ich gehe mit anderen Augen durch die Welt, kann so genannten Abweichungen von der Norm viel offener begegnen. Alles in allem ist die besondere Prägung unseres Sohnes eine große Bereicherung für unsere Familie und ich freue mich, das erleben zu dürfen.